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Das Mädchen aus der Blätterhöhle: 5600 Jahre alte Hagenerin erhält ihr Gesicht zurück

Hagen – Der Name der jungen Frau und die Ursache ihres frühen Todes sind nicht bekannt. Doch seit heute (17. Juli) können wir ihr wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Dank moderner Gesichtsrekonstruktion erhielt die 5600 Jahre alte Hagenerin ihr Gesicht zurück.

Ihr Körper wurde in einer Höhle an einem Felsmassiv im engen Flusstal der Lenne bestattet. Von ihren Verwandten? Aus einem bestimmten Grund? Jedenfalls war die Tote in den weithin erkennbaren Kalksteinklippen des Felsmassivs nicht allein – über Jahrhunderte hinweg wurden immer wieder Verstorbene dort niedergelegt. In der Blätterhöhle im Hagener Stadtteil Hohenlimburg entdeckten Höhlenforscher 2004 schließlich den Schädel der jungen Frau sowie zahlreiche weitere Skelettreste. Die Kriminalpolizei und Gerichtsmedizin wurden eingeschaltet. Doch schnell war klar: der Fund ist ein Fall für die Archäologen.

Seit zehn Jahren werden die Funde der Blätterhöhle von Archäologen und Naturwissenschaftlern untersucht. Bereits wenige Monate nach der Entdeckung stand das Alter der Skelettreste unter anderem der jungen Frau fest. Die C14-Labore der Universitäten zu Kiel und Oxford erbrachten eine ziemlich genaue Radiokarbon-Datierung der von ihrer Substanz sehr gut erhaltenen Knochen. Sie starb vor rund 5600 Jahren im Jungneolithikum, in der späten Jungsteinzeit. Die ihrem Skelett wohl zugehörigen Überreste und der Schädel gaben Hinweise darauf, dass sie 17 bis 22 Jahre alt geworden war – aus heutiger Sicht ein Teenager auf der Schwelle zum Erwachsenenalter. Im Labor für Paläogenetik der Universität Mainz gelang 2013 schließlich die Entschlüsselung der in den Knochen enthaltenen DNA der jungen Frau.

Es stellte sich heraus, dass sie sich vorwiegend von Wild und Fisch ernährt hatte. Die junge Frau aus der Blätterhöhle in Hagen gehörte damit zu einer Gruppe von Menschen, die es nach der bis dahin geltenden Lehrmeinung in der Jungsteinzeit eigentlich nicht mehr geben durfte: Jäger und Sammler. Rund 2000 Jahre vor dem Tod der jungen Frau hatte sich Europa durch die so genannte Neolithische Revolution grundlegend verändert. Ackerbau und Viehzucht sowie sesshafte Bauern in festen Siedlungen lösten damals die weitgehend mobil lebenden Jägergruppen der Mittelsteinzeit ab. Dass noch vor 5600 Jahren im südwestfälischen Sauerland die Überreste von Wildbeuter entdeckt wurden, ist eine Sensation. Es handelte sich um die „Urbevölkerung“ Europas vor der über den Balkanraum einwandernden jungsteinzeitlichen Bauern.

Dr. Constanze Niess mit der Gesichtsrekonstruktion und einer Nachbildung des gefundenen Schädels (Foto: Michael Kaub/Stadt Hagen).
Dr. Constanze Niess mit der Gesichtsrekonstruktion und einer Nachbildung des gefundenen Schädels (Foto: Michael Kaub/Stadt Hagen).

Dr. Constanze Niess ist Rechtsmedizinerin in Frankfurt am Main. Sie gibt Verstorbenen ihr Gesicht zurück. Auf dem Gebiet der Gesichtsrekonstruktionen zählt sie international zu den Experten. Ihre Auftraggeber sind nicht nur Staatsanwaltschaften bei ungeklärten Todesfällen und Mord, sondern immer öfters auch Archäologen und Museen. Constanze Niess fertigte 2014 für das LVR-Landesmuseum in Bonn die Gesichtsrekonstruktion der beiden rund 14000 Jahre alten Eiszeitjäger aus dem Doppelgrab von Oberkassel an. Auch dem vor 1400 Jahren in Morken bei Bedburg bestatteten merowingischen Mann gab Dr. Niess sein Gesicht zurück. Ihr jüngster Auftrag war die junge Frau aus der Hagener Blätterhöhle.

Am 5. September 2015 wird im LVR-Landesmuseum in Bonn die Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen eröffnet. Der Schädel der jungen Frau aus der Blätterhöhle zählt zu den Highlights dieser Großausstellung. Dank einer großzügigen Spende der Sparda Bank in Bonn und Hagen ist es möglich, auch diesem Menschen rund 5600 Jahre nach seinem Tod das Gesicht wiederzugeben.

Heute fand im Foyer des Kunstquartiers in Hagen die Premiere statt. Direkt aus der Werkstatt von Dr. Constanze Niess kommend, wurde die Gesichtsrekonstruktion der jungen Frau erstmalig den Medien und interessierten Bürgerinnen und Bürgern präsentiert. Beim Blick in das Gesicht des vor rund 5600 Jahren verstorbenen „Steinzeitmädchens“ werden sich viele Fragen aufdrängen, die Dr. Constanze Niess vor Ort beantwortete.

Die Gesichtsrekonstruktion wird zusammen mit dem Originalfund des Schädels vom 5. September 2015 bis zum 3. April 2016 in der Archäologischen Landesausstellung im LVR-Landesmuseum in Bonn zu sehen sein. Nach der Beendigung dieser Großausstellung verbleibt die Gesichtsrekonstruktion aufgrund der großzügigen Spende der Sparda-Bank auf Dauer im Museum Wasserschloss Werdringen in Hagen, um dort zusammen mit den Originalfunden präsentiert zu werden.

Foto: Michael Kaub/Stadt Hagen
Foto: Michael Kaub/Stadt Hagen

Hintergrundinformationen

Als die Höhlenforscher vom Arbeitskreis Kluterthöhle e.V. im Frühjahr 2004 in eine Höhle im Felsmassiv des Weißensteins am Rande des Lennetales bei Hagen-Holthausen zahlreiche menschliche Skelettreste und Schädelteile entdecken, ahnten sie und die daraufhin hinzu gezogenen Archäologen nicht, welche Bedeutung die so genannte Blätterhöhle und ihre Funde einmal erlangen würden. Denn nach C14-Radiokarbon-Datierungen war schnell klar, dass es sich um Überreste aus der frühen Mittelsteinzeit vor derzeit bis zu 11.300 Jahren sowie aus der späten Jungsteinzeit zwischen 5.800 bis 5.000 Jahren handelte.

Die Stadt Hagen finanzierte ab 2004 für fünf Jahre sowie in Kooperation mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Regionalverband Ruhr, dem Neanderthal-Museum in Mettmann, der Universität zu Köln und weiteren Kooperationspartnern die Ausgrabungen und Erforschung der Blätterhöhle unter der Leitung des Archäologen Dr. Jörg Orschiedt von der Freien Universität zu Berlin. Ab 2010 übernahm die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Finanzierung der weiteren Untersuchungen, die bis heute längst noch nicht abgeschlossen sind. Obwohl die ursprünglich große, mit bis zu sieben Metern Sediment aufgefüllte Höhle schon viele Geheimnisse preisgegeben hat, liefern die laufenden Grabungen und Forschungen immer neue und teilweise auch sensationelle Ergebnisse. Es handelt sich um eine der wenigen durch frühere Ausgrabungen nicht gestörte archäologische Höhlenfundstellen in Deutschland und darüber hinaus.

Mit einem Alter von derzeit über 11000 Jahren liegen aus der Blätterhöhle die frühesten Menschenreste aus der Nacheiszeit in Europa vor. Diese Funde geben auch Hinweise auf mutmaßlich kultische Bestattungen von menschlichen Überresten in der frühen Mittelsteinzeit. Vor der Höhle lagerten während der Alt- und Mittelsteinzeit immer wieder Jägergruppen. Sie hinterließen Feuerstellen, Reste ihrer Jagdbeute, zahlreiche Steinwerkzeuge und Waffenprojektile. Den Archäologen gelang es bei ihren Grabungen, zum ersten Mal im Mittelgebirgsraum nördlich der Alpen eine datierbare Schichtenabfolge von der frühen bis zur späten Mittelsteinzeit auszugraben – rund 5000 Jahre Besiedlungsgeschichte. Besonders interessant wird es, wenn die laufenden Grabungen in eiszeitliche Schichten vorstoßen und dabei auch wichtige Hinweise zur Klimageschichte in der Region geben können.

In der Höhle entdecken die Archäologen neben den Skelettresten der jungen Frau auch zahlreiche weitere menschliche Überreste aus der Jungsteinzeit. Es handelt sich dabei um Menschen beiderlei Geschlechts sowie unterschiedlichen Alters, auch Kleinkinder und Greise. Datierungen nach dem C14-Radiokarbon-Verfahren lieferten eine zeitliche Einordnung in die späte Jungsteinzeit. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand wurden zwischen 3900 und 3000 v. Chr., also über mehrere Jahrhunderte, immer wieder Menschen in der Höhle bestattet.

Unter den in der Blätterhöhle entdeckten menschlichen Überresten aus der Jungsteinzeit fanden sich nach genetischen Untersuchungen sowohl als Jäger und Sammler lebende als auch Ackerbau und Viehzucht treibende Bevölkerung. Die Forschung ging bislang davon aus, dass überwiegend jägerisch lebende Gemeinschaften in Mitteleuropa zu Beginn der Jungsteinzeit vor rund 7500 Jahren verschwunden waren. Die Befunde in der Blätterhöhle weisen das nördliche Sauerland als eine Region aus, in der es noch 2000 Jahre nach der „Neolithischen Revolution“ immer noch überwiegend von der Jagd und vom Fischfang lebende Gemeinschaften gab. In der Hagener Blätterhöhle wurden solche Befunde weltweit zum ersten Mal direkt und im Fundzusammenhang nachgewiesen. Offenbar lebten im nördlichen Mittelgebirgsraum – im heutigen Stadtgebiet Hagen – Gemeinschaften, die sich vorwiegend als Jäger und Fischer ernährten, daneben aber auch eine landwirtschaftlich lebende Bevölkerung. Ob gleichzeitig oder aber in unterschiedlichen Zeitabschnitten, müssen künftige Untersuchungen klären. Interessant sind auch Fragen nach verwandtschaftlichen Beziehungen und den Geburts- und Lebensorten der Toten aus der Blätterhöhle.

Wie viele Tote überhaupt in der Höhle bestattet wurden, lässt sich derzeit weder für die Mittelsteinzeit noch für die Jungsteinzeit sagen. In künstlich angelegten Steinkammergräbern der späten Jungsteinzeit, die in etwa zeitgleich mit den Bestattungen in der Blätterhöhle zum Beispiel in Nordhessen und Ostwestfalen angelegt wurden, fanden sich die Überreste von dutzenden bis zu hunderten Menschen.

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